Wenn ein Hund nicht alleine bleiben kann, ist das nicht immer auf eine trennungsbedingte Störung zurückzuführen. Dieses Beispiel aus der Hundeschule zeigt, wie wichtig es ist, ein Problem immer ganzheitlich, umfassend und unvoreingenommen zu betrachten.
Balou kam zu mir in die Hundeschule als er etwa 5 Monate war und ich erlebte ihn als quirligen und aufgeweckten kleinen Herzensbrecher. Seine Familie erzählte mir, dass sie mit ihm sehr zufrieden und glücklich seien. Die Aufmerksamkeit draußen und die Leinenführigkeit hätten allerdings durchaus noch Verbesserungspotential. Wir starteten im Junghundekurs und Balou machte flott die gewünschten Fortschritte.
Schwierig wurde es erst, als sich nach langer Zeit im Homeoffice herausstellte, das der kleine Kerl plötzlich nicht mehr allein zu Hause bleiben konnte. Er jaulte, bellte und heulte ohne Unterlass. Aufgrund der Schilderung hatte ich sofort den Verdacht, dass Balou eine trennungsbedingte Störung entwickelt hatte.
Für mich leider ein durchaus bekanntes und recht verbreitetes Phänomen, gerade jetzt nach den Lockdownmaßnahmen. Leider ist die trennungsbedingte Störung, seit dem Beginn der Corona-Pandemie der häufigste Grund für Anfragen für Einzeltraining in meiner Hundeschule.
Anamnese – Diagnose – Trainingsplan
Ein Anamnesegespräch zeigte, dass Balou die Trennung zu seiner Bezugsperson, auch innerhalb des Hauses, nur schwer ertragen konnte. Zudem zeigte er Verhaltensweisen wie Aufreiten, Decken besteigen und Bellen, wenn er keine Aufmerksamkeit bekam. Er lief viel hin und her und hechelte auch phasenweise sehr stark.
Um mir ein besseres Bild von Balous Verhalten zu machen, stellten wir eine Kamera auf und filmten ihn während wir alle kurz das Haus verließen. Meine erste Einschätzung war ein generell hohes Stresslevel sowie Aufmerksamkeit-forderndes-Verhalten, das er auch schon ein klein bisschen perfektioniert hatte und der Verdacht, dass er tatsächlich eine trennungsbedingte Störung hatte, erhärtete sich.
Auf den Trainingsplan kamen also Übungen zur schrittweisen Distanzierung und Gewöhnung an die Abwesenheit der Familienmitglieder. Für die kognitiven und körperlichen Auslastung führten wir neue Übungen ein und stellten wir das, bis dahin unbewusste Verstärken des Aufmerksamkeit-fordernden Verhaltens ab.
Hat ein Hund eine trennungsbedingte Störung hat, ist es zusätzlich sinnvoll, Schlüsselreize die das Alleine-bleiben ankündigen wieder zu löschen. Und so kam auch das mit auf den Trainingsplan.
Ein Problem gelöst – ein weiteres dazu
Das Aufmerksamkeit-fordernde-Verhalten konnte schnell vermindert werden und die anderen Trainingsaufgaben meisterte die Familie ebenfalls sehr erfolgreich.
Balous Familie stand allerdings plötzlich vor dem Problem, dass Balou nicht mehr fressen wollte und immer wieder mit Unwohlsein und Durchfall zu kämpfen hatte. Hinzu kam eine Ohrenentzündung die nicht heilen wollte.
Eine Futterumstellung, die eine schnelle Linderung der o.g. Probleme brachte, bestätigte den Verdachte einer Futtermittelunverträglichkeit.
Wenn die Zeit davon läuft
Mittlerweile waren einige Wochen vergangen und obwohl alle Familienmitglieder super mitgearbeitet haben und alle Trainingsaufgaben gut umgesetzt hatten, blieb der Trainingserfolg bezüglich des Allein-bleibens aus. Auch homöopathischer Unterstützung und der Aufbau eines Entspannungssignals führten nicht zum gewünschten Erfolg. Das war für alle Beteiligten sehr frustrierend. Insbesondere deshalb, weil sich die Möglichkeit im Homeoffice zu arbeiten dem Ende neigte und daher ein gewisser Erfolgsdruck bestand.
Also mussten Mangementmaßnahmen wie Betreuung, Organisation der Arbeitszeiten etc. her. Glücklicherweise stellte das kein Problem dar und so bestand nicht die Gefahr, die wenigen Fortschritte die Balou gemacht hatte, gleich wieder zu löschen.
Leider kamen dann aber auch noch andere Probleme dazu. So ließ sich Balou plötzlich nicht mehr überall anfassen. Er zeigte schon mal die Zähne, wenn er an der Rute und im Po bzw. Hodenbereich angefasst wurde. Außerdem wurde er insgesamt immer unruhiger und auch im Training immer unkonzentrierter. Er schnüffelte nur noch und war gar nicht mehr ansprechbar. Zudem hechelte außergewöhnlich viel und konnte nicht zur Ruhe kommen.
Im Gespräch mit meiner Kundin stellte sich heraus, dass in der Nachbarschaft eine Hündin läufig gewesen war und das erklärte zumindest das wieder verstärkte Problem mit dem Schnüffeln besteigen von Decken. Allderdings erklärte es für mich nicht unbedingt, dass die Aufregung nach dem Ende der Läufigkeit nicht wieder verschwand.
Die Frage nach organischen Ursachen
Da ich eine organische Ursache für das Verhalten allerdings sicher ausschließen wollte, schickte ich Balous Familie mit dem Hund zum Tierarzt und ließ ein Blutbild machen. Außerdem sollte die Ärztin eine Untersuchung der Hoden und der Prostata vornehmen, da die Reaktion auf Berührungen doch sehr heftig und für den kleinen Kerl ungewöhnlich war.
Das Blutbild war, abgesehen von leicht erhöhten Schilddrüsenwerten, die weiter beobachtet werden müssen, unauffällig und auch Prostata und Hoden waren ohne Befund. Da Balou aber übermäßig gestresst durch Hündinnen war und das Verhalten über das normale Maß an Pubertätsproblemen hinausging, entschieden wir gemeinsam, Balou einen Chip zur Hormonregulierung setzen zu lassen, obwohl er erst knapp 8 Monate jung war.
Eine Entscheidung die ich nicht leichtfertig befürworte, insbesondere dann, wenn der Hund noch in der Pubertät und im Wachstum ist. Aber da es in diesem Fall offensichtlich war, dass der kleine Kerl seine hormonbedingten Schwierigkeiten nicht anders in den Griff bekam und er sehr darunter zu leiden hatte, teilte ich die Einschätzung der Tierärztin, dass hier ein Chip Abhilfe schaffen und für einen entspannteren Hund sorgen konnte.
Und dann kam es anders als erwartet
Wie sich herausstellte, war es die absolut richtige Entscheidung. Einige Wochen nach dem Setzen des Chips war Balou wesentlich entspannter und konzentrierter. Er schnüffelte nicht mehr so viel, war ansprechbar und insgesamt wesentlich ruhiger.
Was mich dann sehr überraschte, war die Tatsache, dass das Alleine-bleiben-Training nun auch endlich die gewünschten Erfolge zeigte. Eine Entwicklung, die ich so nicht erwartet hatte, denn das von ihm gezeigte Verhalten ließ sich nicht so eindeutig in den Bereich sexuellmotiviertes Verhalten einordnen.
Eine weitere Verbesserung des allgemeinen Wohlbefindens von Balou erreichten wir dann schlussendlich noch durch eine physiotherapeutische Behandlung, bei der einige Blockaden im Lendenwirbel- und Hüftbereich gelöst werden konnten.
Rückblickende Analyse
Balou ist einer der seltenen Fälle, bei dem der Kastrationschip tatsächlich zu einem ruhigeren und ausgeglicheneren Verhalten geführt hat. Zeigt aber auch ganz deutlich, dass alle gezeigten Stresssymptome (Aufreiten, Hecheln, nicht zur Ruhe kommen, schlecht essen und Bellen) auf die Sexualhormone zurückzuführen waren, was mir rückblickend betrachtet schon eher in den Sinn hätte kommen können.
Balou war schon mit 5 Monaten vergleichsweise weit in seiner Entwicklung, was ich unter anderem an der Reaktion meines Rüden auf den kleinen Zwerg deutlich erkennen konnte. Mein Leo findet Hunde mit Testostoron ja nicht so dolle 😉
Ich bin ja immer bemüht, möglichst umfassend auf die Umstände eines Problemverhaltens zu schauen, aber in diesem Fall, sind mir hier tatsächlich gleich zwei Dinge bei der Betrachtung des Problems in die Quere gekommen.
Das Erste ist die Tatsache, dass ich in aller Regel bei nicht ausgewachsenen Hunden aus diversen Gründen, die ich in einem anderen Beitrag ausführlicher beleuchten werde, gegen eine (chemische) Kastration bin. – Bei erwachsenen Hunden übrigens auch – aber dazu ein anderes Mal.
Und das Zweite war, dass zu dem Zeitpunkt das Alleine-bleiben nach der Lockdownphase ein so verbreitetes Problem war, dass es für mich völlig logisch war, dass die Ursache an der veränderten Tagesroutine liegen musste.
Stimmte ja teilweise, aber halt eben nicht ganz und so hatten wir dann einen Erfolg auf Umwegen – so ist das im Hundetraining manchmal.
Heute ist Balou wieder der kleine aufmerksame, lernwillige und vor allem entspannte Cockerpoo, den ich von Beginn an kannte und bleibt auch alleine zu Hause ohne die Nachbarschaft mit seinem Gesang zu unterhalten 😉